Das Knallen der Zeltplane reißt mich aus meinen Träumen. Draußen peitscht der Wind und ich öffne meine Augen. Irgendwas ist anders. Es dauert einen Moment, bis ich begreife. Das Zeltdach, welches weit über meinem Kopf hängen sollte, befindet sich bedrohlich nah an meinem Gesicht. Von außen drückt der Schnee schwer aufs Zelt. Kurz muss ich überlegen, doch dann geht alles schnell: Moritz aufwecken, raus aus dem Schlafsack, hinein in die Shell Klamotten. Schuhe, Handschuhe, Maske anziehen und ab geht es hinaus. Aber nicht durch meine Seite des Zelts, denn dort ist kein Durchkommen. Draußen ist es stockfinster. Im Lichtkegel meiner Stirnlampe fliegt der Schnee vorbei, während der Wind mir um die Ohren pfeift. Schnell greife ich mir die Schaufel und beginne das Zelt aus dem tiefen Schnee auszugraben. Es reicht, ihn einfach in die Luft zu werfen und schon trägt der Wind ihn fort, weg von unserem Lager, hinein in die Dunkelheit. Die 1,5 Meter hohe Mauer, die wir zu unserem Schutz gebaut haben, ist schon fast verschwunden und unermüdlich treibt der Wind weiteren Schnee zu uns. Irgendwann schaffe ich es, alles freizulegen und das Zelt steht wieder aufrecht. Völlig erschöpft krieche ich in meinen Schlafsack. Es ist 1 Uhr morgens, wir sind mitten im Sarek Nationalpark und das Einzige, was gewiss ist, ist dass ich die Prozedur in 2 Stunden wiederholen muss. Doch ich spüre keine Angst. Nur Müdigkeit und trotz der widrigen Umstände, ein tiefes inneres Glück an diesem Ort zu sein. Warum? Das ist wahrscheinlich einem Außenstehenden schwer zu erklären. Im Folgenden werde ich es trotzdem versuchen.

Aber fangen wir von vorne an. Angefangen hat alles mit der Idee von Moritz und mir mal wieder einen gemeinsamen Urlaub als Brüder zu verbringen. Wie wir genau auf den Sarek Nationalpark kamen, ist uns beiden nicht mehr ganz klar. Vielleicht, da er als „Europas letzte Wildnis“ gilt. Vielleicht, weil ich vor 4 Jahren einen kleinen Einblick in ihn bekommen durfte und sich die Berge tief in mein Unterbewusstsein eingebrannt haben. Ganz sicher aber lockten uns die schönen Flanken, welche wir auf Fotos bei der Internetrecherche fanden. Auffallend war, dass wir im Internet zwar einiges an Infos zu Durchquerungen mit Langlaufski fanden, jedoch fast gar keine Infos zu Skitouren im Nationalpark. So versprach die Reise ein Abenteuer ins Unbekannte zu werden. Und das in Europa, erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln! Unser Plan war simpel. Essen und Ausrüstung für 25 Tage mitnehmen und einmal durch den Nationalpark laufen, von Ritsem im Norden nach Kvikkjokk im Süden. Dabei möglichst alle schönen Skiflanken mitnehmen, welche uns auf dem Weg begegnen.

Das Abenteuer begann aber schon mit der Anreise nach Ritsem. Jeder von uns zog schlussendlich eine 40 Kilo schwere Pulka auf Rollen hinter sich her, die obendrein noch mit Ski beladen war. Komischerweise wurde uns dreimal gesagt, dass es nicht möglich sei, so mit dem Zug zu fahren. Aber irgendwie hat es dann doch jedes Mal problemlos funktioniert und dank zweier Nachtzüge reisten wir ausgesprochen bequem und mit genügend Schlaf. Der erste Zug fuhr von Hamburg nach Stockholm, dann ging es weiter von Stockholm nach Gällivare. Die letzten Stunden im Zug stieg die Anspannung. Zum einen kamen wir unserem Ausgangspunkt immer näher, während die tief verschneiten skandinavischen Wälder Ihren Eindruck auf uns ausübten, zum anderen, weil wir zwei Stunden Verspätung hatten und somit den Anschlussbus, welcher nur einmal am Tag fährt, verpassen würden. Dass diese Sorge unbegründet war, stellte sich am Bahnhof in Gällivare heraus, wo uns ein bestens gelaunter Busfahrer in Empfang nahm. Als alles Gepäck verladen war ging es bei starkem Schneefall weiter auf einer schneebedeckten Straße durch die endlosen Wälder. Sowohl der Schneefall als auch die Wälder lichteten sich und die ersten Berge erschienen aus den Wolken. Der Busfahrer gab sein Bestes, uns nach Ritsem zu bringen aber schon bald war kein Durchkommen mehr. Die Schneeverwehungen waren einfach zu groß. Nun hieß es Warten auf Jens, den Fahrer des lokalen Schneeräumers, welcher wohl am Morgen noch keine Lust zum Aufstehen gehabt hatte. Dies machte er wett, indem er eine halbe Stunde später an uns vorbeischoss und mit voller Geschwindigkeit in die Schneeverwehungen rauschte. Dies war seine recht einfache aber äußerst effektive Taktik, um die Straße von Schnee zu befreien. Die nächsten zwei Stunden folgten wir Jens mit genügend Sicherheitsabstand bis zu unserem Ausgangspunkt, der Fjällstation in Ritsem.

Aufgrund der Verzögerungen war es nun schon 16 Uhr und um zu unserer Fjällstugga zu kommen, mussten wir noch 12 Kilometer über den See. Also verschwendeten wir keine Zeit und begannen zu laufen. Die Wolken drückten wieder über die Berge hinein und mit der beginnenden Dunkelheit umgab uns eine düstere Stimmung. Doch wir waren froh, nach 2 Tagen Anreise und langer Vorbereitungszeit nun endlich unterwegs zu sein. Kurz nachdem die ersten Sterne am Himmel auftauchten, erreichten wir auch schon die Hütte und wurden zum zweiten Mal an diesem Tag vom Hüttenwart freundlich empfangen. In der Hütte konnten wir uns am Ofen wärmen und eine komfortable Nacht in einem Bett verbringen. Ein Luxus, denn wir von nun an 3 Wochen lang nicht mehr haben würden.

Am nächsten Morgen empfing uns Sonnenschein beim Verlassen der Fjällstugga und wir konnten zum ersten Mal so richtig unsere Umgebung sehen. Gegenüber thronte das Akkha-Massiv. Während es bei uns im Tal windstill war, krönten Windfahnen die Gipfel. Ein Zeichen für das schlechtere Wetter, welches gegen Nachmittag hereinziehen sollte. So hieß es Pulka zusammenpacken und weiterziehen. Bis zum Mittag folgten wir noch einer gut markierten Schneemobilspur, ehe es bei immer stärker werdendem Wind nun endlich weg von den Motoren, weg von Wegen, weg von der Zivilisation und hinein in den Nationalpark ging.

Die nächsten 3 Tage verbrachten wir damit, bei wechselndem Wetter immer tiefer in die Berge zu laufen. Die Wolken hingen tief und nur stückweise konnten wir erahnen in was für ein Gebiet wir gerade hineinlaufen. Ab und zu brachen die Sonnenstrahlen durch und sorgten für einen goldenen Kontrast in der sonst tiefblauen Stimmung. Immer wieder machten wir Pausen, um dieses Naturschauspiel zu bestaunen und natürlich auch, um Fotos zu machen, da wir unseren Augen anlässlich dieser Schönheit kaum trauten.

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Erstaunlich für uns beide war, dass sich die Pulkas, trotz Essen für 25 Tage und Bergsteiger- und Campingausrüstung, recht angenehm ziehen ließen. Unser großer Vorteil war, dass wir das gefriergetrocknete Essen von Tactical Foodpack dabeihatten. Jeder hatte 30 Abendessen im Gepäck, welche zusammengerechnet nur 3 Kilogramm pro Person wogen und uns jeden Abend ein leckeres und vor allem warmes Essen bescherten. Sobald das Wasser heiß war, gossen wir es in die Foodpacks, schlossen den Zipper und ab ging es mit der Wärmflasche in den Schlafsack. So konnte sich dieser für die Nacht aufwärmen und nach zehn Minuten gab es dann eine leckere Mahlzeit, wie zum Beispiel den Marrokanischen Linseneintopf, um auch den Körper von innen zu wärmen. Ergänzt wurde unsere Ernährung am Morgen durch ein großes Müsli und für den Tag gab es dann 200 Gramm Nussmix, zwei selbstgemachte Müsliriegel und eine Hand voll Trockenobst für jeden. Zu Mittag gab es jeweils einen Core Shake von Tactical Foodpack in Kombination mit einem Stück Käse und einer Scheibe selbstgebackenen Früchtebrot nach Omas Rezept, welches durch seine Konsistenz in unserer Familie auch „Stein“ genannt wird, aber hervorragend schmeckt. Wenn wir uns belohnen wollten, gönnten wir uns abends noch eine Kama Bar von TF. Eher unrühmlich und doch lecker waren auch die 20 Tafeln Schokolade, welche wir mitgenommen hatten.

Mit Laufen, Essen und Zeltplatz verlagern waren unsere Tage gut gefüllt und so befanden wir uns nach 4 Tagen mitten in den Bergen des Sareks während ein Schneesturm um uns herum tobte. Aus dem Weiß, welches uns umgab, tauchte unvermutet vor uns eine verlassene Rentierwärter-Hütte auf, zu unserer Überraschung war diese unverschlossen und wir flüchteten vor dem Wind ins Innere. Drinnen richteten wir es uns so gemütlich ein, wie es zwischen gammeligen Matratzen und hereingewehtem Schnee möglich ist. Beim Empfangen des Wetterberichts machten unsere Herzen dann einen kleinen Freudensprung. Ein Hochdruckgebiet war in Anmarsch und die komplette nächste Woche versprach strahlend blauen Himmel. Zwar sagte der Wetterbericht auch Temperaturen von bis zu -25 Grad an, doch dies ignorierten wir erstmal gekonnt. Wichtig war, dass wir gutes Wetter bekommen würden, um in die Berge zu gehen. Später am Tag kam noch ein finnisches Pärchen in die Hütte, heilfroh dem noch sehr grausigen Wetter draußen zu entfliehen. Nach einem netten Nachmittag überließen diese uns dankenswerterweise eine detaillierte Karte der Region, welche wir in Deutschland nicht beschaffen konnten. Dank dieser Großzügigkeit und dem guten Wetterbericht steckten wir unsere Köpfe über der Karte zusammen und entwarfen einen groben Plan für die nächsten Tage. Dieser sah vor, das Wetterfenster für Skitouren in den Bergen zu nutzen. Geplant war erst eine Tour im vorderen Ruohtesvagge. Danach wollten wir diesem folgen, um unterhalb des Sarektjhakka unser Camp für einige Tage aufzustellen und die dortige Berg- und Gletscherwelt zu erkunden.

Schon am Abend legte sich der Wind und der Himmel klarte auf. So gingen wir noch einmal kurz vor die Tür und nahmen die friedliche Abendstimmung auf, ehe wir uns tief in unsere Schlafsäcke verkrochen. Am nächsten Morgen zogen wir unsere Pulkas bis zum Einstieg der Tour, wo wir diese deponierten. Ohne das Zusatzgewicht, welches uns die Tage zuvor begleitet hatte, flogen wir förmlich zuerst das Seitental und danach den Gletscher Ruoghtesjiegna hinauf. In der Sonne auf dem Gletscher wurde uns zum ersten Mal an diesem Tag so richtig warm. Da wir die Lawinensituation noch schlecht einschätzen konnten entschieden wir uns für einen flachen, doch sehr schönen Aufstieg zu unserem ersten Gipfel, den Sjielmatjhakka. Auf dem Gipfelgrat angekommen verschlug es uns die Sprache. Vor uns breitete sich nun zum ersten Mal die Bergwelt des Sarek aus. Was wir sahen, übertraf all unsere Erwartungen! Zu zwei Seiten Gipfel, soweit das Auge reichte. Die wunderbaren Berge waren frisch eingeschneit und präsentierten uns steile Flanken, eine schöner als die andere. Gegen Norden eine weite Fläche bis zu fernen Erhebungen, welche schon die Berge Norwegens waren. So wurde der restliche Weg über den Grat zu einem Panoramaspaziergang.

Skitour im oberen Ruhtesvagge
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Am Gipfel angekommen war es windstill und relativ warm, sodass wir uns zu einer Gipfelrast hinsetzen konnten. Nie schmeckten der Shake und die Nüsse besser, während wir die Energie unserer Umgebung in uns aufsaugten. Die Stille wurde nur unterbrochen, wenn einer von uns beiden auf eine Flanke zeigte, ungläubig wie schön diese war. Irgendwann setzte dann wieder der Wind ein und wir machten uns an die Abfahrt. Immer im flachen Gelände haltend ging es in einem scheinbar nie aufhörenden „Wedler“ hinab auf den Gletscher. Der pulvrige Schnee, kombiniert mit den monotonen Schwüngen, gab uns das Gefühl zu schweben. Unten im Tal angekommen bauten wir unser Zelt auf und genossen noch kurz die Sonne, ehe wir in unsere Schlafsäcke schlüpften und auf eine kalte Nacht vorbereiteten. Kalt war sie tatsächlich! Noch dazu drehte der Wind zweimal in der Nacht, sodass wir jedes Mal raus mussten, um unsere Mauer zu ergänzen. So wachten wir am nächsten Morgen etwas zerknittert auf, nur um festzustellen, dass alles von einer feinen Schneeschicht überzogen war, sogar unsere Innenschuhe!

Na ja, da hilft auch kein Jammern, auch wenn Moritz diesen Weg durchaus versuchte. Was zunächst half war ein warmes Frühstück, begleitet von den lieblichen Klängen Hildegard Knefs. Dann hieß es auch schon bald rein in die kalten Innenschuhe und raus in den Wind, um das Zelt einzupacken. Mit beladenen Pulkas und dick eingepackt ging es dann auch schon wieder besser und der Ausblick, während wir das Ruohtesvagge weiter entlangliefen, entschädigte für alles. Für alles, bis auf die kalten Zehen, die waren einfach nur nervig! Gegen Mittag legte sich der Wind zum Glück wieder und es wurde etwas wärmer. Schon bald hatten wir den Einstieg zum Mihkajiegnatal erreicht. Vor diesem bauten wir unser Lager für die nächsten Tage auf. Den Blick schon auf die Flanken der kommenden Tage gerichtet, zu dem Zeitpunkt aufgrund des schlechten Schneeprofils von vor ein paar Tagen nicht wissend, dass wir sie befahren werden, gruben wir uns den gesamten Nachmittag über ein Iglu, um uns vor der Kälte zu schützen. Nach anstrengender Bauarbeit war dieses kurz vor Sonnuntergang bewohnbar und wir konnten es uns gemütlich machen. Auch wenn es draußen schweinekalt war, lohnte sich an diesem, so wie an den kommenden Tagen auch, Nachts der Toilettengang nach draußen gleich doppelt. Beim Entleeren der Blase konnte man den Himmel bestaunen, welcher komplett mit Polarlichtern beleuchtet wurde. Darunter die wilden Berge des Sareks, einfach fantastisch!

Ziel der nächsten Tage war es, die Berge der Sarektjhakka Kette zu erkunden. So zogen wir am nächsten Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen los. Zuerst durch das Mihkajiegnatal danach hoch auf den Gletscher. Um ein besseres Gefühl für das Gelände und die Lawinensituation zu bekommen, entschieden wir uns wie bei der letzten Skitour für eine flache Variante und spurten an Gletscherspalten vorbei hinauf zum Vargtoppen. Auch wenn es diesmal windig und kalt am Gipfel war, hatten wir einen guten Überblick und wurden wieder mit einer richtig schönen Pulverabfahrt über den Gletscher belohnt. Von oben konnten wir auch einen Blick auf den Grat des Stortoppen, den höchsten Berg des Nationalparks, werfen. Dieser sah nach anregender, aber nicht allzu schwerer Kraxelei aus. Noch dazu sahen wir die Südflanke, welche mit zwei weiten Mulden in Richtung Gletscher hinabfiel. Schon von weitem hatten wir diese Flanke erspäht, nun sahen wir, dass sie mit Pulverschnee und ohne Triebschnee in perfekten Bedingungen war. Auch ein Schneeprofil in ähnlicher Exposition lieferte ein vielversprechendes Ergebnis. Dementsprechend freudig ging es zurück zum Lager, wo wir einen kalten Nachmittag in der Sonne verbrachten und das wunderschöne Panorama betrachteten. Uns umgab nichts außer Berge und Ruhe. Sobald wir mit unserem Rascheln der dicken Daunenjacken aufhörten, welches vor allem beim Nüsse essen entstand, konnten wir letztere auch voll genießen.

Skitouren am Sarektjhakka
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Schon vor dem Verschwinden der Sonne wurde es allerdings zu kalt zum draußen sitzen und wir packten unsere sieben Sachen zusammen. Beim Reinbringen der ersten Fuhre ins Iglu erwartete Moritz eine böse Überraschung. Die Decke war während des Tages eingesackt. Zwar stand das Iglu noch, doch wir vertrauten diesem nicht mehr und bauten in aller Eile doch noch unser Zelt auf. Kurz vor Sonnenuntergang stand es und wir konnten uns in unsere Schlafsäcke verkrümeln. Wenigstens wurde uns so am Nachmittag nochmal richtig warm.

Die Nacht war klar und wieder war der Himmel voller Polarlichter. Eindrucksvoll! Aber eine klare Nacht heißt auch eine kalte Nacht und dementsprechend erfroren waren unsere Füße am Morgen in den Skischuhen. Dies vergaßen wir spätestens auf dem Gletscher, allerspätestens auf dem Grat zum Stortoppen des Sarektjhakka. Dieser ließ sich problemlos mit Steigeisen und Pickel gehen und bot Blick auf den gesamten Sarek und nach Norden bis zum Kebnekaisa und den weiten Ebenen Schwedens. Nach links ging es tief hinab, beim Tiefblick nach rechts steigerte sich die Vorfreude auf die Abfahrt. Flacher als erwartet, doch gleichmäßig und gefüllt mit Pulverschnee lagen die Mulden des Südhanges in der Sonne als warteten sie nur darauf, befahren zu werden. Ungläubig, was für ein Glück wir mit den Bedingungen hatten, legten wir jedoch erstmal eine Gipfelrast ein, ehe wir uns dann an die Abfahrt machten. Wir zogen unsere Skier an und los gings. Bevor wir die rechte Mulde erreichten, mussten wir durch den mit Anraunen bedeckten Gipfelbereich. Dieser erforderte unsere gesamte Konzentration. Ein kurzer Blick in die Schneedecke bestätigte unser gutes Gefühl und schon konnte ich Moritz zugucken, wie er in immer größeren Schwüngen Richtung Gletscher fuhr und dabei kleiner und kleiner wurde. Als er nur noch ein Punkt in der sonst menschenleeren Landschaft war, gab ich mein Bestes, um seine Spur zu komplementieren und es fühlte sich einfach unglaublich an. Tag acht im Sarek und wir konnten, bei Pulverschnee und Sonne, große Schwünge einen scheinbar endlosen Hang hinunterziehen. Bis oben gefüllt mit Glücksgefühlen machten wir uns zurück ins Lager.

Schon fast routinemäßig liefen wir, mit kalten Füßen am nächsten Morgen wieder in Richtung Mihkajiegna. Aufgrund des guten Schnees vom Vortag entschieden wir uns heute für die Flanke des Sydtoppens. Wieder gab uns das Schneeprofil ein gutes Gefühl und so ging es zuerst in Spitzkehren, später unschwierig im Bootpack durch eine von Anraunen bewachte Rinne zum Gipfel und dann in großen Schwüngen wieder hinab ins Tal. Was für ein Gefühl, nach einer steilen Flanke seine Bögen über den Gletscher zurück zum Zelt zu ziehen…

Nach vier Tagen im Sarektjakkagebiet und zufrieden mit dem was wir erreicht hatten, entschieden wir uns dazu die nächsten zwei Tage zu nutzen, um über den Ahkajiegna weiter ins Sarvesvagge zu ziehen. So zumindestens der Plan! Schon nach zwei Stunden laufen sahen wir eine Rinne, an der wir einfach nicht vorbeilaufen konnten. Wir änderten spontan unsere Pläne und anstatt uns mit den Pulkas 400 Höhenmeter den Gletscher hochzuquälen, fanden wir uns schon bald in der Sonne liegend in unseren Schlafsäcken wieder. Es hätte schlechter laufen können. Neuer Plan war am nächsten Morgen die Rinne zu fahren und die Tage danach zuerst durchs Alggavagge, über das Niejdariehpvagge ins Sarvesvagge zu laufen.

Zu dem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, dass uns die kälteste Nacht unserer Reise bevorstand. Nach einer Nacht irgendwo tief im Minus 20er Bereich, ging es verfroren am nächsten Morgen im Schatten los. Diesmal biss sich die Kälte in die Zehen, noch dazu streikten meine Felle wegen der niedrigen Temperaturen. Die schlechte Laune änderte sich allerdings schlagartig, als wir die Sonne erreichten. Und so stapften wir eine Stunde später ohne Jacke die sonnige Rinne hoch. Diese hatte eine schöne Neigung und stellte sich auf, je höher wir kamen. Dank des hervorragenden 30 Zentimeter Pulvers, ließ sie sich trotz der Steilheit wunderbar hinaufstapfen. Schon bald fanden wir einen guten Ausstieg an der Gipfelwechte vorbei. Oben angekommen waren wir voller Vorfreude auf die Abfahrt. Im Volksmund gilt Vorfreude zwar als die schönste Freude, was wir jedoch in der folgenden Abfahrt erleben durften, übertraf diese Vorfreude nochmal um einiges. Nach ein paarmal Umspringen auf härterem Schnee konnten wir unseren Ski schon bald freien Lauf lassen. Abwechselnd schauten wir dem anderen zu, wie er den Schnee in die Luft fliegen ließ. Vollgeladen mit Endorphinen schossen wir auf den offenen Hang hinaus und weiter in Richtung Zelt. Ziemlich sicher, dass wir die Erstbefahrer dieser Rinne waren, beschlossen wir diese „kaltfüßiges Physikum“ zu taufen. Fragte mich Moritz doch beim Blick von weitem, ob diese Rinne überhaupt physikalisch fahrbar sei. Und „kaltfüßig“? Na ja, das ist doch wohl recht selbsterklärend…

Kaltfüßiges Physikum (Guohperskaijde)
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Beim Zelt angekommen machten wir kurz Mittag, packten unsere Pulkas zusammen und zogen weiter, immer dem Algavagge folgend in Richtung Westen. Der Sonnenuntergang am Abend markierte nicht nur das Tagesende, sondern auch das Ende des Hochdruckgebietes.

Wir sollten noch einen Tag brauchbares Wetter bekommen, ehe eine Schlechtwetterfront angesagt war. Wir nutzten den Tag, um durch das Niejhdariehpvagge ins Sarvesvagge zu kommen. Das „Vagge“ zu deutsch: „Tal“ entpuppte sich als eine wunderschöne Passüberschreitung. Oben angekommen, hüllten sich die gegenüberliegenden Berge gerade aus den Wolken und wir bekamen einen eindrucksvollen Vorgeschmack auf das, was uns in unserer nächsten und letzten Gebirgsregion wohl erwarten würde.

Im Sarvesvagge angekommen hieß es jedoch erstmal Mauer bauen, und zwar eine hohe, war doch für die nächsten drei Tage Sturm und starker Schneefall angesagt. Das Mauer bauen forderte unsere letzten Kräfte und völlig erschöpft ließen wir uns nach 12 Tagen Daueranstrengung in unsere Schlafsäcke fallen. Froh, dass nun ein bis drei Tage Pause bevorstanden. Neben der physischen Erholung war ein weiterer positiver Aspekt des Schneefalles, dass dieser mit höheren Temperaturen verbunden war. „-10 Grad“? Das klang nach Urlaub! Völlig zufrieden mit dem, was wir im Zentralteil des Sareks erlebt hatten, warteten wir nun geduldig darauf, dass der Sturm über uns hinweg zog und besseres Wetter für unsere nächste Etappe kam. Die Zeit vertrieben wir uns mit Essen, Backgammon, Lesen und natürlich auch viel Schneeschaufeln.

Allgavagge and transition to Sarvesvagge
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Dankbar und glücklich über die schon erlebten Augenblicke und in Vorfreude auf die nächsten Tage, war es nicht schlimm, nachts rauszumüssen, um das Zelt von Schnee zu befreien. Im Gegenteil, es war schon fast angenehm diese drei Tage im Zelt zu verbringen, während draußen das Wetter tobte. Dabei machte es uns auch nichts aus, seit über zwei Wochen nicht mehr geduscht zu haben.

Nach drei Tagen Pause wurde das Wetter dann tatsächlich wieder gut und nachdem wir in archäologischer Arbeit all unsere Ausrüstung freigelegt und zusammengepackt hatten, befanden wir uns eine Stunde später inmitten des Hanges auf der Hochebene namens Luohttlahko. Jeder, der vielleicht schon einmal selbst eine Pulka irgendwo hinaufbefördert hat weiß, wie anstrengend dies ist, doch erstaunlicherweise konnten wir bis oben hin mit Spitzkehren gehen und benötigten „nur“ 2 Stunden für die 400 Höhenmeter auf die Hochebene. Mit unfassbaren Ausblicken zu allen Seiten ging es dann immer weiter auf die Bardde-Kette zu. Diese wollten wir in den kommenden Tagen überqueren, doch noch machte sie einen unüberwindbaren Eindruck und so durften wir uns sehr klein in einer großen und weiten Landschaft fühlen. Ein intensives Gefühl, welches ich vor allem in den wilden Bergen dieser Welt zu schätzen gelernt habe.

Am Rande der Hochebene, zu Fuße des Lullihatjhakka, bauten wir unser Lager auf und wurden Zeugen eines Sonnenuntergangs, der das Licht golden machte und später von den seichten Farben der skandinavischen blauen Stunde abgelöst wurde. Voller Vorfreude blickten wir auf unser morgiges Ziel den Lullihatjhakka, welcher in ein zartes Rosa gehaucht war, während über ihm der Mond stand.

Auf der Hochebene
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Auf der Hochebene

Während unseres Aufstieges am nächsten Tag zeigte er uns jedoch ein ganz anderes Gesicht. Schon kurz nach unserem Aufbruch zogen dichte Wolkenfelder über die Hochebene und tauchten alles in ein undurchdringbares Weiß. Immer einer Rinne folgend, war die Orientierung jedoch recht simpel und so konnten wir trotz beschränkter Sicht den Gipfel erreichen. In der Abfahrt sah man im oberen Teil gerade noch unsere Spur und die 10 Meter davor. Trotzdem war sie spaßig und im mittleren Teil wurde sowohl die Sicht als auch der Schnee besser, sodass wir noch ein paar richtig gute Schwünge genießen konnten. Auch wenn das Wetter rein objektiv betrachtet, deutlich schlechter war, als bei den Touren davor, empfanden wir es trotzdem beide als Freude unterwegs zu sein und auch mal die widrigen Elemente zu spüren. Gegen Mittag waren wir dann jedoch wieder froh, uns in unsere trockenen und warmen Schlafsäcke begeben zu können.

Die kommende Nacht startete ruhig, doch schon bald nahm der Wind zu und wehte Schnee unter unsere Zeltplane hindurch. So wurden unsere Schlafsäcke und wir im Zelt vollgeschneit und beide mussten wir nacheinander raus, um die Ursache zu beheben. Ohne Schnee, aber in nassen Schlafsäcken verlief der Rest der Nacht dementsprechend.

Am Morgen war es immer noch windig, doch nachdem wir alle Sachen ausgegraben hatten, konnte es losgehen. Es war Tag 18 und unsere letzte große Hürde stand an. Wir bündelten nochmal unsere Kräfte und zogen die Plastikwannen ein letztes Mal über einen Pass. Als Belohnung bekamen wir oben Wind und schlechte Sicht. Ohne Rast machten wir uns langsam tastend hinab auf den Barddejiegna. Auf dem Gletscher kamen wir irgendwann unter die Wolkendecke und nun wurden wir so richtig belohnt. In idealer Neigung konnten wir mit den Pulkas durch die Landschaft abfahren, während links und rechts immer wieder neue Spitzen und Felswände aus den Wolken herausstachen. Sogar die Sonne kam heraus und verlieh der mystischen Stimmung etwas Freundliches.

Im Tal erwartete uns eine völlig neue Welt. Der Wind hatte hier stärker geweht als in den Regionen davor und eine Marslandschaft freigelegt. Zwischen abgeblasenen und erodierten Hügeln mit schwarzem Gestein irrten wir umher auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Diesen fanden wir dann nach einigem Suchen hinter einem großen Stein. Mit aufgebautem Zelt, Sonne, Blick auf Berge und Vögelchen, die um uns herumspielten, wirkte die Welt schon wieder freundlicher. Am Abend riefen wir noch einmal den Wetterbericht ab und fassten einen Plan für die nächsten Tage. Das angekündigte gute und warme Wetter wollten wir noch für zwei Abschluss-Skitouren nutzen und uns danach auf den Rückweg in Richtung Zivilisation machen. Waren es doch immerhin noch zwei Tage Fußmarsch bis nach Kvikkjokk.

Nun war ein Ende unserer Reise in Sicht, was ein bisschen nachdenklich stimmte, allerdings hatte es einen großen Vorteil: Wir konnten unser Essen so rationieren, dass es nur noch vier, maximal fünf, anstatt 8 Tage halten musste. Das versprach dicke Müslis am Morgen und vor allem eine doppelte Ration Tactical Foodpack am Abend. Auch wenn wir sehr zufrieden mit unserer Ernährung während der Durchquerung waren, sind wir doch in drei Wochen täglicher Anstrengung ins Defizit geraten und da tut eine doppelte Portion Wunder für Körper und Geist.

So schlemmten wir die restlichen Tage wie die Könige. Die wärmeren Temperaturen nutzten wir für einen dringend notwendigen Waschgang und endlich auch für das warme Sitzen in der Sonne. Denn dies ist doch der eigentliche Grund, warum man in die Natur zum Zelten geht: Um mit genügend Snacks in der Sonne zu sitzen und die Ruhe der menschenleeren Umgebung aufzusaugen. Da das ganze nach einer Skitour noch schöner ist, bewegten wir uns morgens natürlich auch noch eine Runde. Am ersten Tag folgten wir einer Rinne auf der Ost-Seite des Gaskastjhakka. Da die Gipfelflanke zu abgeblasen und steinig war, verzichteten wir auf diese und aßen lieber im Sattel auf einem Stein genüsslich zu Mittag. An unserem letzten Tag in den Bergen stiegen wir bei guten Bedingungen durch die Südost-Flanke auf den Skajddetjhakka. Vom Gipfel hatten wir noch einmal eine Aussicht auf den kompletten Sarek-Nationalpark und all das, was hinter uns lag. Noch heute scheint es mir wie im Traum, was für gute Bedingungen wir hatten und was für ästhetisch schöne Berge wir befahren durften. Mit dieser Gewissheit, zutiefst dankbar an den Sarek, zogen wir noch ein letztes Mal in großen Schwüngen die pulvrige Gipfelflanke hinunter.

Am nächsten Morgen zog das Wetter zu. Nichtsdestotrotz bauten wir unser Zelt ab, packten die Pulkas zusammen und machten uns auf den Weg über die Hochebene. Die Aussicht war rundherum weiß und so navigierten wir mit unserem GPS-Gerät. Dankbar waren wir als wir den ersten Baum nach drei Wochen sahen. Schon bald wurde der Wald aber so dicht, dass es abenteuerlich wurde mit den Pulkas einen Weg zu finden. Zum Glück haben wir bei widrigen Bedingungen in der Rhön Skifahren gelernt!

Das mit dem Erreichen des Kungsledens noch keine „gemähten Wiesen“ sind mussten wir feststellen, während wir durch tiefen nassen Schnee einspuren mussten. Es stellte sich heraus, dass wir auf einem Sommerabschnitt waren und so wurden die letzten 3 Kilometer bis ins Tal nochmal richtig anstrengend. Doch auch dies schafften wir und verbrachten eine letzte Nacht auf einer Waldlichtung, ehe wir am nächsten Tag bei Sonnenschein einer Schneemobilautobahn nach Kvikjokk folgten.

Letzte Bergtouren und der Weg nach draußen
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Und dann war es auf einmal vorbei! Da standen wir nun vor der Fjällstation in Kvikkjokk. Nach 22 Tagen in den Bergen wussten wir nicht so recht, was wir nun mit uns anstellen sollten. Freuen, dass wir es ans Ende geschafft hatten? Traurig sein, dass es nun vorbei ist? Na gut, auf jeden Fall erstmal duschen!

Geschrieben von Till Fladung